Anergienetz
Definition: ein Leitungsnetz für den Transport von Wärme auf niedrigem Temperaturniveau
Alternativer Begriff: kaltes Nahwärmenetz
Englisch: anergy network
Kategorien: Grundbegriffe, Wärme und Kälte
Autor: Dr. Rüdiger Paschotta
Wie man zitiert; zusätzliche Literatur vorschlagen
Ursprüngliche Erstellung: 28.07.2016; letzte Änderung: 20.08.2023
Wärmepumpenheizungen (wie auch andere Wärmepumpenanwendungen) nehmen Wärme aus einem Reservoir mit niedriger Temperatur auf, um daraus nutzbare Wärme auf einem höheren Temperaturniveau zu produzieren. Die aufgenommene Niedertemperaturwärme kann als Anergie bezeichnet werden.
Bei kleinen Anlagen (ohne Anergienetz) wird die Anergie in unmittelbarer Umgebung der Wärmepumpe der Umwelt entnommen – beispielsweise mithilfe einer oder mehrerer Erdwärmesonden oder über einen Luft/Wasser-Wärmeübertrager der Außenluft. In manchen Fällen ist es aber sinnvoll, die Niedertemperaturwärme über ein Leitungsnetz zu führen, wobei meist nur moderate Distanzen von z. B. einigen hundert Metern überbrückt werden. Ein solches Leitungsnetz wird als ein Anergienetz oder kaltes Nahwärmenetz bezeichnet. Es funktioniert im Prinzip gleich wie ein Netz für Fernwärme oder Nahwärme, außer dass es mit einer niedrigen Temperatur – nicht weit entfernt von der Umgebungstemperatur – betrieben wird: beispielsweise bei 10 bis 15 °C. Deswegen benötigen die Leitungen nur eine geringfügige oder auch gar keine Wärmedämmung, was deren Kosten erheblich reduziert; außerdem sind auch größere Leitungslängen insofern kein Problem. Andererseits wird wegen der normalerweise geringen Temperaturspreizung solcher Systeme tendenziell ein höherer Leitungsquerschnitt benötigt, um den hohen Volumenstrom für eine gegebene Leistung mit moderatem Aufwand für Pumpen zu erzielen. Die Frostsicherheit muss natürlich gewährleistet sein, beispielsweise durch Verlegung der Leitungen in ausreichender Tiefe oder durch Verwendung eines Frostschutzmittels.
Die möglichen Vorteile der Verwendung eines Anergienetzes hängen von den jeweiligen Umständen ab:
- Im einfachsten Fall liegt beispielsweise eine Erdwärmesonde in einiger Entfernung von einer Wärmepumpe, und ein einfaches unidirektionales Leitungsnetz mit Vorlauf- und Rücklaufleitung verbindet diese miteinander. Man erhält also die Möglichkeit, auch eine etwas entferntere Wärmequelle zu verwenden, z. B. wenn eine Erdwärmesonde oder ein Grundwasserbrunnen aus irgendwelchen Gründen nicht direkt am Ort der Wärmepumpe erstellt werden kann.
- Man kann auch mehrere Erdwärmesonden verwenden, oder auch unterschiedliche solche Wärmequellen, etwa mit Nutzung von Grundwasser oder Abwasser aus industriellen, anderen gewerblichen Gebäuden oder auch Wohnhäusern. (Vielerorts stehen wesentliche Mengen solcher Abwässer auf einem Temperaturniveau nicht weit unterhalb von 20 °C zur Verfügung.) Es kann dabei nützlich sein, die Kältelast auf mehrere Quellen gleichmäßig verteilen zu können, unabhängig von der Verteilung der entnommenen Wärmemengen auf die verschiedenen Wärmepumpen.
- Man kann mehrere dezentrale Wärmepumpen einsetzen, die u. U. unterschiedliche Leistungen und Temperaturen der Nutzwärme aufweisen. Beispielsweise können Wärmepumpenheizungen den größeren Teil der Wärme mit relativ niedriger Vorlauftemperatur (z. B. 30 °C bei Fußbodenheizung) bereitstellen, während kleinere Wärmemengen auf höherem Temperaturniveau für die Warmwasserbereitung benötigt werden. Die gemeinsame Nutzung beispielsweise eines Grundwasserbrunnens für mehrere Wärmepumpen kann deutlich kostengünstiger sein als die Errichtung eines Brunnens für jede Wärmepumpe.
- Wo im Gebiet des Netzes Quellen von Abwärme vorhanden sind (z. B. dezentrale Kraftwerke, Klimaanlagen, Kältemaschinen oder andere industrielle Anlagen), können diese die Abwärme direkt in das Anergienetz einspeisen, anstatt sie z. B. mit Rückkühlern in die Luft abzugeben. Dies kann einerseits den Aufwand für die Abfuhr der Wärme reduzieren (auch die Energieeffizienz von Kältemaschinen verbessern) und andererseits die Wärme anderswo wieder nutzbar machen. Im Idealfall halten sich die verschiedenen Entnahmen und Einspeisungen von Wärme im Jahresmittel in etwa die Waage, sodass nur noch relativ geringe Mengen von Wärme von außen zugeführt oder dorthin abgeführt werden müssen. Für die jahreszeitliche Zwischenspeicherung sind beispielsweise Felder von Erdwärmesonden geeignet.
- Klimaanlagen kommen evtl. sogar ohne Kältemaschine aus, wenn die Netztemperatur ausreichend niedrig ist – insbesondere bei großflächiger Temperierung z. B. mit Kühldecken.
- Auch die Solarthermie kann genutzt werden, wo ein Netto-Wärmebedarf besteht. Aufgrund der niedrigen Temperatur können kostengünstige Niedertemperatur-Sonnenkollektoren sehr hohe Jahreserträge liefern. Der zumindest zeitweilige zusätzliche Wärmeeintrag durch die Kollektoren kann verhindern, dass die Temperatur in Erdsondenfeldern durch übermäßige Wärmeentnahme zu stark absinkt. Gleichzeitig kann Photovoltaik einen Teil der elektrischen Energie für Wärmepumpen und Wasserpumpen erzeugen.
Im Vergleich zu konventionellen Wärmenetzen mit zentralem Wärmeerzeuger (z. B. einem großen Ölheizkessel) erlaubt die Umstellung auf ein Anergienetz oft große Energieeinsparungen und vor allem eine enorme Reduktion klimaschädlicher CO2-Emissionen – in manchen Fällen um mehr als einen Faktor 10.
Beispiele für Strukturen von Anergienetzen
In einfacheren Fällen kann man ein unidirektionales Netz verwenden (Abbildung 1), bei dem eine zentrale Station (Heizzentrale) einen "Warmleiter" mit einer Temperatur von z. B. zwischen 10 und 15 °C speist. Die Zirkulation wird durch eine zentrale Pumpe gewährleistet. Die einzelnen Wärmeverbraucher beziehen Wasser aus der Vorlaufleitung und geben es abgekühlt in die Rücklaufleitung ab. Wärme einspeisende Anlagen dagegen beziehen Wasser ebenfalls aus dem Warmleiter, geben es aber mit höherer Temperatur in die Rückleitung ab. Die zentrale Station muss dafür sorgen, dass die Vorlauftemperatur auch bei schwankenden Entnahmen oder Einspeisungen im vorgesehenen Bereich bleibt. Wärmemengenzähler dienen der finanziellen Abrechnung.
Für ein Anergienetz mit etlichen angeschlossenen Anlagen, die Wärme entnehmen oder einspeisen, bietet sich ein bidirektionales System (Abbildung 2) mit Warmleiter (mit z. B. 12 bis 18 °C) und Kaltleiter (mit z. B. 8 bis 16 °C) beispielsweise in einem Industriegebiet an. (Abweichend von Abbildung 2 kann auch ein System mit Ringleitungen realisiert werden.) Hier entnehmen die Wärmeverbraucher Wasser dem Warmleiter und geben es abgekühlt an den Kaltleiter ab, während Einspeiser (z. B. Kühlanlagen) Wasser dem Kaltleiter entnehmen und erwärmt in den Warmleiter einspeisen – jeweils mit separaten Pumpen. Dieser Ansatz bringt einen höheren exergetischen Nutzen, da die Wärme abgebenden Anlagen mit einer deutlich niedrigeren Temperatur versorgt werden können als die Wärme beziehenden. Wiederum muss die zentrale Anlage die Energiebilanz aufrechterhalten, um die Temperaturen von Warmleiter und Kaltleiter in den vorgesehenen Bereichen zu halten. Schließlich kann man in der Regel nicht garantieren, dass sich die dezentralen Einspeisungen und Entnahmen von Wärme jederzeit die Waage halten. Für diese Aufgabe ist beispielsweise eine Großwärmepumpe geeignet, die aufgrund der relativ geringen Temperaturdifferenz mit sehr hoher Leistungszahl arbeiten kann.
Es gibt auch Systeme mit mehr als zwei Leitern, die mehrere unterschiedliche Temperaturen bereitstellen, um Anlagen mit unterschiedlichen Idealtemperaturen gut bedienen zu können.
Es ist auch möglich, zunächst mehrere kleinere, autonom arbeitende Anergienetze aufzubauen und diese später miteinander zu vernetzen, um einen noch größeren Gesamtnutzen zu erzielen. Beispielsweise können manche Teilnetze zeitweilige Überschüsse an Wärme an andere Teilnetze abgeben, die in dieser Zeit Wärme benötigen. Auf diese Weise kann auch auf Nutzungsänderungen reagiert werden, beispielsweise auf den Anschluss vieler zusätzlicher Wärmeverbraucher in einem Teilnetz. Es ist also nicht unbedingt nötig, von Anfang an ein großes flächendeckendes Netz einzurichten; jedoch kann es sehr sinnvoll sein, eine eventuelle spätere Vernetzung von Anfang an in die Planung einzubeziehen.
Anergienetze mit Netzbetreiber
Wie herkömmliche Wärmenetze müssen auch Anergienetze nicht unbedingt von den Wärmeverbrauchern betrieben werden, sondern u. U. effizienter von einem separaten Netzbetreiber, der nicht Eigentümer der Liegenschaft ist und die Bereitstellung der Anergie an die einzelnen Verbraucher verkauft (zu Kosten pro Kilowattstunde, die weit unter denen für Wärme bei höheren Temperaturen liegt). Die dezentralen Wärmepumpen können entweder vom gleichen Netzbetreiber errichtet und betrieben werden oder aber von den dezentralen Verbrauchern. Es werden gewisse Betriebsbedingungen vereinbart, insbesondere betreffend die Temperaturen von Vorlauf und Rücklauf, den Volumenstrom und den erlaubten Druckverlust. Eine Grundsatzfrage ist auch, ob eine komplette Systemtrennung mithilfe von Wärmeübertragern im Interesse einer höheren Betriebssicherheit durchgeführt wird.
Mögliche Alternative: zentrale Wärmeerzeugung
Ein solches System steht im Prinzip in Konkurrenz zu einem konventionellen System mit zentraler Wärmeerzeugung und Verteilung dieser Wärme auf einem höheren Temperaturniveau. Die Vorteile und Nachteile dieser Ansätze müssen im konkreten Fall sinnvoll gegeneinander abgewogen werden. Beispielsweise ist ein Nachteil der zentralen Wärmeerzeugung, dass die Temperatur für den Verbraucher mit der höchsten Anforderungen an die Temperatur ausreichend sein muss, die anderen Verbraucher aber dann mit einer unnötig hohen Temperatur beliefert werden. Dies reduziert insbesondere bei der Wärmebereitstellung mit einer Wärmepumpe die mögliche Energieeffizienz. Außerdem sind die Energieverluste in den Verteilungsleitungen natürlich umso höher, je höher die Temperatur der Leitungen ist, und wärmegedämmte Leitungen sind erheblich teurer. Einspeisungen von Abwärme sind bei höherer Temperatur auch wesentlich schwerer realisierbar. Auf der anderen Seite sind die Investitionskosten für einen zentralen Wärmeerzeuger tendenziell geringer.
Es gibt auch Lösungen, die einen Kompromiss zwischen beiden Ansätzen darstellen. Man kann ein Wärmenetz mit einer relativ niedrigen Temperatur von 30 °C von einer zentralen Heizungswärmepumpe betreiben. Die Temperatur genügt dann nur für Heizzwecke, und die für Warmwasser benötigten höheren Temperaturen werden über zusätzliche dezentrale Wasser/Wasser-Wärmepumpen bereitgestellt. Mit diesem Ansatz erreicht man eine effiziente Wärmebereitstellung in Verbindung mit moderaten Wärmeverlusten im (wärmegedämmten) Verteilnetz.
Es gibt alte Wärmeverteilnetze mit ungenügender Wärmedämmung, die nachträglich in Niedertemperatur- oder Anergienetze umgewandelt werden können, wobei dezentrale Wärmepumpen einzubauen sind. Das Problem der Wärmeverluste in den Leitungen wird damit eliminiert, und die Leitungen bleiben langfristig nutzbar. Allerdings kann die transportierte Leistung wegen der meist geringeren Temperaturspreizung bei der Umstellung abnehmen; das kann bei knapp dimensionierten Netzen ein Problem sein.
Siehe auch: Anergie, Fernwärme, Wärmepumpe, Wärmepumpenheizung
Wenn Ihnen diese Website gefällt, teilen Sie das doch auch Ihren Freunden und Kollegen mit – z. B. über Social Media durch einen Klick hier:
Diese Sharing-Buttons sind datenschutzfreundlich eingerichtet!