Blindstrom
Definition: ein Teil des Stroms bei Wechselstrom, der keine Wirkleistung überträgt
Alternativer Begriff: Spannungsfall
Gegenbegriff: Wirkstrom
Englisch: reactive current
Kategorien: elektrische Energie, physikalische Grundlagen
Autor: Dr. Rüdiger Paschotta
Wie man zitiert; zusätzliche Literatur vorschlagen
Ursprüngliche Erstellung: 12.07.2010; letzte Änderung: 20.08.2023
Blindströme sind ein Phänomen, welches nur bei Wechselstrom und Drehstrom auftritt, nicht bei Gleichstrom. Sie haben zur Folge, dass elektrische Energie zwischen Erzeuger und Verbraucher hin- und herpendelt, so dass die Leitungen ohne Nutzeffekt (Netto-Energieübertragung) belastet werden. Dagegen fließt die Energie bei einem reinen Wirkstrom systematisch in eine Richtung. Häufig tritt in der Praxis auch ein Gemisch von Blind- und Wirkstrom auf.
Einfache Beispiele
Im Folgenden wird das Phänomen der Blindströme anhand von für die Praxis typischen Beispielen erläutert. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass sowohl die elektrische Spannung als auch die von einem Verbraucher (Gerät) bezogene Stromstärke sinusförmig mit der Netzfrequenz von 50 Hz oszilliert.
Wenn der Verbraucher beispielsweise ein einfacher Heizwiderstand einer Elektroheizung ist, ist die Stromstärke in jedem Moment proportional zur Spannung (Abbildung 1). Die übertragene elektrische Leistung oszilliert zwar, ist aber immer gleich gerichtet (nämlich zum Verbraucher hin), und ist im Mittel halb so hoch wie die maximal auftretende Momentanleistung. Man spricht hier von einem reinen Wirkstrom; ein Blindstrom tritt nicht auf. Die mittlere Leistung (Wirkleistung) entspricht dem Produkt der Effektivwerte von Spannung und Strom.
Wenn dagegen zwischen Stromstärke und Spannung eine Phasenverzögerung von 90° auftritt (d. h. eine zeitliche Verschiebung der Maxima um ein Viertel einer Periode), dann oszilliert die übertragene Leistung wie in Abbildung 2 gezeigt. Diese Situation kann an einer verlustlosen Drosselspule (einer rein induktiven Last) auftreten. Die Leistung nimmt abwechselnd positive und negative Werte an, d. h. die Energie pendelt zwischen Netz und Verbraucher hin und her, und im zeitlichen Mittel wird überhaupt keine elektrische Leistung übertragen, trotz des Stromflusses. Die Scheinleistung, das Produkt der Effektivwerte von Spannung und Strom, ist in diesem Beispiel gleich wie im vorherigen Fall, obwohl die tatsächlich im Mittel übertragene Leistung Null ist. Hier spricht man von einem reinen Blindstrom. Es wird nur eine Blindleistung übertragen, aber keine Wirkleistung. Die Blindleistung entspricht hier dem Produkt der Effektivwerte von Spannung und Blindstrom. Wenn sie zeitlich integriert wird, erhält man die Blindarbeit. Der Artikel hierzu enthält auch ein Rechenbeispiel.
In der Praxis tritt häufig irgendein Phasenwinkel zwischen −90° und +90° auf, so dass sowohl Wirkleistung als auch Blindleistung übertragen werden; dies wird weiter unten diskutiert.
Induktive und kapazitive Lasten
Blindströme können sowohl von induktiven Lasten verursacht werden, wie oben gezeigt, als auch von kapazitiven Lasten, wobei bei den letzteren der Stromfluss um 90° vorverschoben anstatt verzögert ist.
Kapazitive Lasten entstehen vor allem durch Kondensatoren, aber auch durch die Kapazität von Leitungen, vor allem bei Hochspannungsleitungen in Form von Erd- oder Seekabeln. (Freileitungen weisen viel niedrigere Kapazitäten auf als Erd- oder Seekabel.) Hier wird elektrische Energie eingespeichert (übrigens im Raum außerhalb der Leiter), immer wenn die Spannung betragsmäßig zunimmt, und wieder entnommen, wenn die Spannung sinkt. Die momentan gespeicherte Energie ist proportional zum Quadrat der momentanen Spannung.
Induktive Lasten dagegen entstehen hauptsächlich durch elektromagnetische Effekte in verschiedenen Arten von Spulen, z. B. Drosselspulen, Transformatoren und Elektromagneten, beide auch als Teile von Elektromotoren. Spulen sind auch in anderen Geräten enthalten, z. B. als Drosselspulen in einfachen konventionellen Vorschaltgeräten für Leuchtstofflampen.
Im einfachsten Fall einer Spule mit vernachlässigbar kleinem Widerstand der Wicklung entsteht ein rein induktiver Strom, und die im Magnetfeld gespeicherte Energie ist proportional zum Quadrat der Stromstärke. Zum Zeitpunkt eines Spannungsmaximums ist die Stromstärke null; danach (wenn die Spannung schon wieder sinkt) wächst der Strom wieder an, und magnetische Energie wird eingespeichert. Erst nachdem die Spannung ihr Vorzeichen geändert hat und betragsmäßig wieder zunimmt, wird diese Energie wieder entnommen.
Bei realen (nicht widerstandslosen) Spulen kommt ein Wirkstromanteil dazu, der zu einer Erwärmung der Wicklung führt. Komplizierter ist die Situation bei Elektromotoren, wo der Wirkstromanteil häufig überwiegt. Der entstehende Phasenwinkel des Stroms kann stark von der Bauart des Motors und auch von der Drehzahl abhängen. Auch Transformatoren sind komplizierter zu verstehen; hier spielen natürlich durch zusätzliche Wicklungen fließende Ströme eine große Rolle für Blindströme in der Primärwicklung.
Auch gerade Leitungen haben eine gewisse Induktivität. Stark belastete Hochspannungsleitungen wirken deswegen oft netto induktiv, während bei niedriger Belastung kapazitive Blindströme überwiegen.
Wenn über eine gemeinsame Leitung sowohl induktive als auch kapazitive Lasten angeschlossen werden, können sich die entstehenden Blindströme gegenseitig ganz oder teilweise ausgleichen (kompensieren), so dass entsprechend geringere Blindströme durch die Zuleitung fließen. Die Blindströme fließen dann u. U. fast nur noch zwischen diesen Lasten, aber kaum mehr durch die gemeinsame Verbindung zur Spannungsquelle. Dies bezeichnet man als Blindleistungskompensation und wird durch entsprechende Maßnahmen oft gezielt eingesetzt – meist nicht perfekt, aber im Sinne einer Begrenzung des Blindstroms. Für die Blindleistungskompensation bei Verbrauchern mit induktiver Komponente setzt man Kondensatoren ein, ebenso dynamische Blindleistungsgeneratoren z. B. auf der Basis von Synchrongeneratoren oder Drosseln mit Phasenanschnittsteuerung.
In der Praxis kommen häufig Situationen vor, in denen ein gewisser Blindstrom gemeinsam mit einem Wirkstrom auftritt. Der Phasenwinkel zwischen Strom und Spannung ist dann nicht null, aber auch +90° oder −90°, sondern irgendwo dazwischen. Der Transport von Leistung erfolgt dann bevorzugt in einer Richtung (vom Netz zum Verbraucher) (siehe Abbildung 3), und es wird eine gewisse Durchschnittsleistung (Wirkleistung) übertragen, die allerdings kleiner ist als die Scheinleistung.
Grundsätzlich kann man den Strom gedanklich in zwei Teile zerlegen: einen Wirkstromanteil, der für die übertragene Durchschnittsleistung verantwortlich ist, und einen Blindstromanteil, der nicht zur Durchschnittsleistung beiträgt. Entsprechend unterscheidet man die Wirkleistung und die Blindleistung. Die Wirkleistung ergibt sich als das Produkt der elektrischen Effektivspannung, der Effektivstromstärke und des Kosinus des Phasenwinkels <$\varphi$> zwischen Strom und Spannung. Häufig wird der Verschiebungsfaktor oder Wirkfaktor <$\cos \varphi$> auf Typenschildern von elektrischen Geräten angegeben; im Idealfall (ohne Blindströme) ergibt sich der Wert 1, sonst ein kleinerer Wert. Die Blindleistung – in diesem Fall eine reine Verschiebungsblindleistung – gilt dagegen <$Q = U_\textrm{eff} \cdot I_\textrm{eff} \cdot \sin \varphi$>.
Allgemeiner bezeichnet man das Verhältnis von Wirkleistung und Scheinleistung als Leistungsfaktor <$\lambda$>; nur im Falle eines sinusförmigen Strom- und Spannungsverlaufs gilt <$\lambda = \cos \varphi$>. Der allgemeineren Fall wird im Folgenden erläutert.
Nicht sinusförmiger Stromverlauf: Oberwellen, Verzerrungsblindleistung
Häufig kommt es vor, dass der Verlauf der Stromstärke nicht sinusförmig ist. Dies ist beispielsweise der Fall bei Betrieb eines Gleichrichters; hier verschwindet die Stromstärke völlig zu Zeiten, in denen die Spannung betragsmäßig nicht hoch genug ist. Viele (vor allem kleinere) Schaltnetzteile enthalten einen einfachen Gleichrichter, der dieses Phänomen aufweist. Ein anderes Beispiel sind Dimmer mit Phasenanschnittsteuerung, wo die Stromstärke am Anfang einer Schwingungsperiode der Spannung zunächst null bleibt und dann plötzlich stark ansteigt.
In solchen Fällen gilt die Gleichung <$\lambda = \cos \varphi$> nicht; der Leistungsfaktor muss auf andere Weise berechnet werden, wie in den Artikeln über Leistungsfaktor und Verzerrungsblindleistung detailliert erklärt wird.
Nicht sinusförmige Stromverläufe können als Überlagerung einer Grundschwingung mit Oberwellen interpretiert werden, wobei nur die Grundschwingung zur Wirkleistung beiträgt, nicht aber die Oberwellen.
Auch eine Modulation der Leistung führt letztendlich zu einem nicht sinusförmigen Stromverlauf. Wenn beispielsweise ein Verbraucher periodisch jeweils für zehn Schwingungsperioden eingeschaltet und dann wieder für zwanzig Perioden abgeschaltet wird, mag der Stromverlauf zwar während des Einschaltens noch sinusförmig sein, aber eben nicht für die gesamte Zeit. Auch dies führt zu Verringerung des über die Modulationsperiode gemittelten Leistungsfaktors, und man spricht hier von einer Modulationsblindleistung. Anders als bei der Verzerrungsblindleistung hat man es nicht Oberwellen zu tun, sondern mit auch wesentlich tieferen Frequenzkomponenten.
Reduzierter Spannungsabfall bei Blindströmen
Wenn über eine Stromleitung (z. B. eine Hochspannungsleitung) Wechselstrom übertragen wird, ergibt sich ähnlich wie bei Gleichstrom ein Spannungsabfall an der Leitung – wobei die Situation jedoch in einer Beziehung wesentlich anders ist als bei Gleichstrom, vor allem im Zusammenhang mit Blindströmen.
Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass die Leitung nur einen ohmschen Widerstand aufweist, also keine Induktivität und keine Kapazität. Dann ist der auftretende Spannungsabfall – gemessen z. B. zwischen den Enden eines Stromkabels – gleich dem Produkt von Stromstärke und Widerstand der Leitung. Dieser Zusammenhang gilt sowohl für die Momentanwerte also auch für die Effektivwerte von Spannungsabfall und Strom. Ein Faktor <$\cos \varphi$> taucht hier nicht auf; für Blindströme gilt also dasselbe wie für Wirkströme.
Anders als bei Gleichstrom entspricht die resultierende Reduktion der Spannung beim Verbraucher im allgemeinen aber nicht dem Spannungsabfall an der Leitung. Bei Wechselstrom gilt dieser Zusammenhang nämlich nur für die Momentanwerte, aber nicht mehr für die Effektivwerte, sobald Blindströme auftreten. Dies liegt daran, dass die Quellenspannung und die am betrachteten Kabel auftretende Spannung nicht mehr in Phase sind, d. h. also zueinander phasenverschoben schwingen.
Falls der Abfall der Spannung am Verbraucher gering ist und die Leitung nur einen ohmschen Widerstand hat, kann die Reduktion der Verbraucherspannung (als Effektivwert) näherungsweise berechnet werden als das Produkt von Widerstand der Leitung, Stromstärke und <$\cos \varphi$>. Das heißt beispielsweise, dass bei reinem Blindstrom in erster Näherung keine Reduktion der Verbraucherspannung auftritt. In diesem Fall ist die Leitung an der Spannung um ca. 90° gegenüber der Quellenspannung phasenverschoben. Bei kleinerem Phasenwinkel tritt eine gewisse Reduktion der Verbraucherspannung auf, aber eben um den Faktor <$\cos \varphi$> reduziert.
Buchstäblich komplexer wird die Lage, wenn auch die Leitung eine komplexe Impedanz hat, beispielsweise aufgrund ihrer Induktivität. Die Verbraucherspannung kann dann unter Umständen sogar höher sein als die Quellenspannung. Beispielsweise kann die Induktivität einer Leitung zusammen mit der Kapazität eines Verbrauchers einen Serienschwingkreis bilden, der bei Resonanz eine große Spannungserhöhung verursachen kann. Solche Phänomene sind für Wechselstrom- bzw. Drehstrom-Hochspannungsleitungen relevant, dagegen kaum in Niederspannungsnetzen.
Siehe den Artikel über den Begriff Spannungsabfall für weitere Details.
Praktische Bedeutung von Blindströmen
Blindströme sind bei der Übertragung elektrischer Energie z. B. in Hochspannungsleitungen ungünstig, weil sie die Stromstärke in der Leitung erhöhen, ohne zur Energieübertragung beizutragen. Die erhöhte Stromstärke führt zu erhöhten Energieverlusten in der Leitung, soweit dies nicht z. B. durch entsprechend vergrößerte Leitungsquerschnitte ausgeglichen wird. Der Leistungsverlust durch Blindströme ist allerdings in der Regel weitaus kleiner als die Blindleistung selbst; seine Größe hängt von den Eigenschaften des Stromnetzes und der Erzeugung der Blindleistung ab.
Ein zusätzliches Problem entsteht für die Spannungshaltung: Durch die Blindstromproblematik kann die Spannung auf einer Stromleitung schneller abfallen, so dass sie schließlich für die Verbraucher zu gering wird; in anderen Fällen kann es auch zu Spannungserhöhungen kommen (siehe oben). Solche Probleme müssen durch zusätzliche Maßnahmen gelöst bzw. verhindert werden. Insbesondere kann durch den gezielten Einsatz von Blindwiderständen die Spannungshaltung gewährleistet werden. So lassen sich auch Flüsse von Wirkleistung in die gewünschten Richtungen bewirken.
Die von Netz und Verbrauchern bezogene Blindleistung muss letztendlich von den Kraftwerken geliefert werden, soweit sie nicht mit anderen Methoden außerhalb der Kraftwerke (etwa Anlagen für Blindleistungskompensation) erzeugt wird. Die Verteilung der Blindleistungen auf die Kraftwerke muss dabei nicht zwingend der Verteilung der Wirkleistungen entsprechen. Ein Kraftwerk am Stromnetz kann Blindleistung oft in variabler Höhe einspeisen, ein Stück weit unabhängig von der eingespeisten Wirkleistung. Diese Funktion ist wichtig im Zusammenhang mit der Spannungshaltung. Kleinere Erzeuger wurden von solchen Pflichten früher oft ausgenommen; sie arbeiteten z. B. mit Asynchrongeneratoren ohne Blindstromkompensation oder mit einfachen Wechselrichtern. Jedoch sind heute z. B. elektronische Wechselrichter für Photovoltaikanlagen und optimierte Generatoren für Windenergieanlagen verfügbar, die ebenfalls eine einstellbare Blindleistungsproduktion ermöglichen.
Typische Haushaltsstromzähler reagieren nicht auf Blindströme, d. h. sie erfassen nur die Wirkleistung, also die effektiv gelieferten Energiemengen. Stromtarife für Großverbraucher berücksichtigen meist auch Blindleistung, was einen Anreiz dafür setzt, Blindströme mit eigenen Anlagen zu kompensieren oder mit besser konstruierten Geräten gleich zu vermeiden. Auf diese Weise lässt sich die Energieeffizienz des Stromnetzes verbessern, indem Netzverluste reduziert werden, und die Spannungshaltung wird für die Netzbetreiber vereinfacht.
Probleme mit Blindströmen (oder den Nebenwirkungen der Blindstromkompensation) lassen sich vollständig vermeiden durch Gleichstromübertragung. Dies ist ein wesentlicher Vorteil der Hochspannungs-Gleichstromübertragung (HGÜ), insbesondere bei Verwendung von See- und Erdkabeln.
Siehe auch: Blindleistung, Blindleistungskompensation, Leistung, Scheinleistung, Wirkleistung, Leistungsfaktor, Stromnetz, Hochspannungsleitung, Spannungshaltung
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