Reaktorsicherheit
Definition: die Sicherheit des Betriebs von Kernreaktoren, insbesondere mit Blick auf schwere Unfälle
Englisch: nuclear reactor safety
Kategorien: Energiepolitik, Grundbegriffe, Kernenergie, Ökologie und Umwelttechnik
Autor: Dr. Rüdiger Paschotta
Wie man zitiert; zusätzliche Literatur vorschlagen
Ursprüngliche Erstellung: 03.04.2011; letzte Änderung: 20.08.2023
URL: https://www.energie-lexikon.info/reaktorsicherheit.html
Der Betrieb von Kernreaktoren, insbesondere von großen Reaktoren innerhalb von Kernkraftwerken, birgt massive Gefahren. Deswegen gehören Überlegungen und Maßnahmen für eine möglichst hohe Reaktorsicherheit zu den essenziellen Aspekten der Nutzung der Kernenergie. Dieser Artikel diskutiert eine Reihe von technischen und nicht-technischen Aspekten, die hier eine Rolle spielen.
Da Kernfusionsreaktoren auf absehbare Zeit technisch nicht realisierbar sind, bezieht sich dieser Artikel ausschließlich auf Kernspaltungsreaktoren.
Einschluss radioaktiver Substanzen
Ein entscheidender Aspekt der nuklearen Sicherheit ist der sichere Einschluss der radioaktiven Substanzen – insbesondere der hochradioaktiven Spaltprodukte, aber auch von erbrütetem Plutonium und von anderen Transuranen. Man beachte, dass das radioaktive Inventar des Reaktors eines typischen Kernkraftwerks, das bereits für einige Zeit betrieben wurde, weitaus höher ist als beispielsweise das, welches von der Hiroshima-Atombombe freigesetzt wurde. Deswegen bedeutet bereits die Freisetzung eines geringen Prozentsatzes des radioaktiven Inventars eines Atomreaktors eine nukleare Katastrophe. Dagegen ist die direkte Abgabe von Strahlung an die Umgebung im Normalbetrieb minimal, und auch die Menge im Normalbetrieb in die Umwelt gelangender radioaktiver Substanzen ist recht gering – geringer beispielsweise als beim Uranbergbau und der Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen, und oft sogar im Vergleich zu den Emissionen von Kohlekraftwerken, da Kohle radioaktive Spurenelemente enthält.
Für den Einschluss der radioaktiven Substanzen wird eine Reihe von Barrieren realisiert:
- Die erste Barriere ist die metallische Hülle der Brennstäbe. Die Hüllrohre bestehen meist aus einer sehr widerstandsfähigen Zirkoniumlegierung. Im Normalbetrieb kann es zu gewissen Beschädigungen von Brennstäben kommen, aber nur zu einem sehr begrenzten Austritt radioaktiver Substanzen in das Kühlwasser.
- Das Kühlwasser wird in Normalbetrieb mehr oder weniger radioaktiv und darf nicht in die Umwelt gelangen. Ein sicherer Einschluss wird dadurch erschwert, dass das Kühlwasser unter einem hohen Druck (hunderte von bar) steht. Es ist also notwendig, den Reaktordruckbehälter und alle Kühlmittelleitungen extrem stabil zu gestalten. Auch Beschädigungen z. B. durch Korrosion oder Alterung durch Druck- und Temperaturschwankungen müssen vermieden oder rechtzeitig entdeckt und behoben werden. In vielen Druckbehältern sind z. B. mithilfe von Ultraschalluntersuchungen zahlreiche Risse gefunden worden; dies hat jedoch häufig nicht zur Stilllegung geführt, wenn der Eindruck entstand, die Risse würden zu langsam wachsen, um eine ernsthafte Gefahr darzustellen.
- Die nächste Barriere ist der Reaktorsicherheitsbehälter, auch als Containment bezeichnet. Dieser umschließt den gesamten Reaktor und Teile des Kühlmittelkreislaufs. Auch ausgelaufenes Kühlmittel wird am Boden des Sicherheitsbehälters gesammelt, von wo es wieder abgepumpt werden kann. Bei sehr schweren Unfällen kann jedoch auch der Sicherheitsbehälter zerstört werden, etwa durch eine Explosion oder durch geschmolzenes radioaktives Material.
Die Gebäudestrukturen außerhalb des Sicherheitsbehälters können einerseits den Reaktor vor Einwirkungen von außen schützen (bei besonders starker Auslegung sogar gegen Flugzeugabstürze) und andererseits eine weitere Barriere gegen den Austritt radioaktiver Substanzen bilden. Beispielsweise können Filteranlagen erlauben, gezielt und dosiert einen entstandenen Überdruck abzubauen, ohne damit das Entweichen erheblicher Mengen von radioaktiven Substanzen zu verursachen.
Leider können alle Sicherheitsbarrieren bei schweren Unfällen beschädigt und damit unwirksam werden. Insbesondere im Falle einer Kernschmelze (siehe unten) besteht eine erhebliche Gefahr des Versagens aller Barrieren.
Regelung der Leistung
Eine gefährliche Situation tritt ein, wenn die nukleare Kettenreaktion zu einer schnell ansteigenden Leistung des Reaktors führt – beispielsweise wenn die Regelstäbe dies nicht schnell genug verhindern. Die Leistung eines Reaktors kann dann in kürzester Zeit extrem ansteigen. Eine solcher Kritikalitätsunfall führt zur Zerstörung oder Beschädigung von diversen Komponenten des Reaktors. Beispielsweise kann der Druck im Kühlsystem rasant ansteigen und die Kühlmittelleitungen sprengen. Die Überhitzung von Brennstäben (insbesondere nach Verlust des Kühlwassers) führt zur Freisetzung stark radioaktiver Substanzen zunächst innerhalb des Reaktors und in der Folge womöglich auch nach außen. Außerdem kann beim Kontakt von überhitzten Brennelementen (ab ca 900 °C) mit Wasserdampf auch Wasserstoff entstehen, der in der Folge explodieren kann, so dass weitere starke Beschädigungen auftreten. (Sowohl bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 als auch in Fukushima 2011 hatten Wasserstoffexplosionen schwere Zerstörungen und die Freisetzung großer Mengen von radioaktiven Substanzen zur Folge; eine unkontrollierte Kettenreaktion gab es nur in Tschernobyl.) Ebenfalls kann es vorkommen, dass Strukturen des Reaktorkerns derart deformiert werden, dass die Steuerstäbe nicht mehr in den Reaktor eingefahren werden können.
Als Notmaßnahme können Bor-haltige Substanzen (beispielsweise Borsäure) dem Kühlwasser zugegeben werden. Da Bor stark neutronenabsorbierend ist, kann es die Kettenreaktion unterbrechen, auch wenn die Steuerstäbe nicht mehr zur Verfügung stehen. Dies setzt allerdings voraus, dass das Bor-haltige Wasser schnell genug zu den Brennstäben gelangt.
Leichtwasserreaktoren (anders als graphitmoderierte Reaktoren und schnelle Brüter) haben die günstige Eigenschaft der Eigenstabilität: Wenn bei Überhitzung das Kühlwasser ausgetrieben wird, entfällt dessen Funktion als Moderator, und somit wird der Reaktor automatisch unterkritisch, d. h. die Kettenreaktion erlischt. Allerdings kann es trotzdem zu Wasserstoffexplosionen (siehe oben) kommen, ebenso zu einer Kernschmelze (siehe unten).
Nachzerfallswärme
Der größte Teil der in einem Kernspaltungsreaktor erzeugten Wärmeleistung stammt direkt von der Kernspaltung, jedoch trägt auch die Nachzerfallswärme aus dem radioaktiven Zerfall der Spaltprodukte etliche Prozent bei. Der problematische Aspekt dieses Beitrags ist, dass er sich anders als die Kettenreaktion nicht abschalten lässt. Die Nachzerfallswärme fällt also unvermeidlich an, auch nach dem Abschalten des Reaktors, und zwar für viele Jahre (mit allmählich abnehmender Stärke). Bei den allermeisten Kernreaktoren ist die Nachzerfallswärme für lange Zeit nach dem Abschalten so stark, dass sie zur Beschädigung des Reaktors und in der Folge zu einem katastrophalen Unfall führen kann, wenn sie nicht in ausreichendem Maße abgeführt werden kann. Die zuverlässige Funktion des Kühlsystems unter allen Umständen ist also für die Reaktorsicherheit essenziell, aber gerade unter schwierigen Umständen (etwa nach Erdbeben, Explosionen und der Zerstörung elektrischer Anlagen) nicht immer zu gewährleisten.
Beispielsweise beim Reaktorunglück in Fukushima in 2011 wurde genau dies in mehreren Reaktorblöcken zum entscheidenden Problem: Die Reaktoren mussten wegen des Erdbebens abgeschaltet werden, konnten also keine elektrische Energie mehr erzeugen, und das Hochspannungsnetz fiel ebenfalls aus. In dieser Lage funktionierten zunächst noch die Notstromgeneratoren (auf der Basis von Dieselmotoren), bis auch diese durch den folgenden Tsunami zerstört wurden. Für kurze Zeit gab es noch elektrische Energie aus großen Batterien, aber bald stand nicht mehr genügend Energie für eine ausreichende Kühlung zur Verfügung – nicht einmal für den Betrieb der Leitwarte. In der Folge wurden mehrere Reaktorkerne und ebenfalls Lagerbecken für ausgediente Brennelemente unzureichend gekühlt, so dass sie sich übermäßig erhitzten. In der Folge kam es zu schweren Wasserstoffexplosionen, zur Zerstörung von mehreren Reaktorgebäuden und zur massiven Freisetzung radioaktiver Substanzen in die Luft, das Meer und das Grundwasser. Die Arbeiten zur Wiederherstellung der Kühlung wurden stark behindert durch die extreme Radioaktivität in der gesamten Umgebung.
Es gibt Pläne für neue Reaktortypen, bei denen die Nachzerfallswärme rein passiv (also ohne aktive Systeme mit Kühlwasserpumpen u. ä.) abgeführt werden kann, beispielsweise durch die natürliche Konvektion (Umwälzung) des Kühlwassers allein aufgrund der Temperaturunterschiede. Dieses Prinzip funktioniert allerdings nur für relativ kleine Reaktoren und nicht beispielsweise für moderne Druckwasserreaktoren mit thermischen Leistungen von mehreren Gigawatt. Hier kann nur die Zuverlässigkeit eines aktiven Kühlsystems optimiert werden. Hierzu gehören beispielsweise mehrere unabhängige Kühlwasserpumpen (mehr, als im Normalfall benötigt werden) und mehrere mögliche Energiequellen für deren Betrieb. Solche Redundanzen werden bei jedem Reaktor eingesetzt, aber sie reichen in manchen Fällen nicht aus. Beispielsweise können mehrere Notstromgeneratoren gleichzeitig durch eine Flutwelle zerstört werden, oder es werden Leitungssysteme zerstört, die die Nutzung vorhandener Stromquellen verhindern.
Man beachte, dass bei vielen Reaktoren ein oder mehrere stark gefüllte Abklingbecken vorliegen, in denen eine größere Menge von Radioaktivität lagern kann als im Reaktorkern. Die Kühlung von Abklingbecken kann deswegen ebenso kritisch sein wie die des Reaktors, zumal die Abklingbecken meist weniger gut gesichert sind als der Reaktorkern. Nach den vorliegenden Informationen hätte in Fukushima leicht noch eine viel größere Katastrophe entstehen können, wenn ein bereits trockengefallenes Abklingbecken nicht zufällig als Folge eines schweren Lecks an anderer Stelle zusätzliches Wasser erhalten hätte.
Kernschmelze
Bei einem massiven Ausfall der Kühlung kann eine Kernschmelze einsetzen: Der Reaktorkern oder Teile davon werden so heiß, dass sie schmelzen. Hierfür genügt bereits die Nachzerfallswärme (siehe oben); eine Kernschmelze kann also auch ohne eine außer Kontrolle geratende nukleare Kettenreaktion stattfinden bei einem Reaktor, selbst viele Wochen nach seiner Abschaltung. Die Kernschmelze hat mehrere sehr problematische Konsequenzen:
- Die weitere Kühlung wird noch schwieriger, sobald die Kernschmelze eingesetzt hat. Insbesondere wenn der geschmolzene Reaktorkern ein relativ kleines Volumen am Boden des Reaktordruckbehälters einnimmt, lässt er sich kaum mehr kühlen.
- Gerade im letzteren Fall besteht auch die Gefahr, dass der geschmolzene Reaktorkern wieder kritisch wird. Dann setzt also die nukleare Kettenreaktion wieder ein, mit der Folge einer starken weiteren Wärmeproduktion und der Erzeugung zusätzlicher intensiver Strahlung (insbesondere Neutronenstrahlung aus den Spaltungsprozessen) sowie auch von weiterem radioaktivem Material, welches wiederum die Nachzerfallswärme verstärkt. Ein solcher Kritikalitätsstörfall ist besonders gefährlich.
- Der Versuch, den geschmolzenen Kern mit Wasser wieder zu kühlen, kann zwar hilfreich sein, birgt aber auch die Gefahr von Wasserstoffexplosionen.
- Der geschmolzene Kern hat keine intakten Brennstabhüllen mehr, so dass die hochradioaktiven Spaltprodukte (insbesondere die leichtflüchtigen) direkt freigesetzt werden können. Hierdurch wird zumindest das Innere der Anlage völlig verseucht, was weitere Arbeiten an der Anlage extrem erschwert, und unter Umständen weitet sich die Verseuchung auf die gesamte Umgebung des Reaktors aus.
- Wenn der geschmolzene Kern mehrere tausend Grad Celsius heiß wird, kann er sich durch den Reaktordruckbehälter und durch den Sicherheitsbehälter und das Betonfundament hindurchfressen. So kann ein großer Teil des radioaktiven Materials bis zum Grundwasser gelangen. Bei Kontakt mit Wasser können weitere Explosionen auftreten, die das radioaktive Material stark weiter verteilen.
Bei fast allen derzeit betriebenen Kernreaktoren muss eine Kernschmelze als ein nicht mehr beherrschbares Schadensereignis (ein "Super-GAU") gelten. Es muss deswegen alles Mögliche unternommen werden, um eine Kernschmelze zu verhindern, damit katastrophale Auswirkungen vermieden werden. Nur wenige modernste Reaktoren enthalten einen "core catcher", d. h. eine Vorrichtung, die den geschmolzenen Kern im Notfall sicher auffangen kann. Insbesondere soll damit ein Durchschmelzen durch den Sicherheitsbehälter (das Containment) verhindert werden. Das Vermeiden einer nuklearen Katastrophe ist damit jedoch noch nicht garantiert, da beispielsweise immer noch die Möglichkeit bleibt, dass Wasserstoffexplosionen die Reaktor- und Gebäudestrukturen zerstören und zur massiven Freisetzung von Radioaktivität führen.
Gefahr von Bränden und anderen chemischen Reaktionen
Manche Reaktortypen erfordern die Verwendung von Materialien, die durch Brandgefahr ein erhöhtes Risiko mit sich bringen. Dies gilt insbesondere für alle graphitmoderierten Reaktoren, also auch für Kugelhaufenreaktoren. Bei der Atomkatastrophe von Tschernobyl hat der tagelange Brand des Graphits, welches als Moderator in großen Mengen vorhanden war, entscheidend zur großflächigen Verbreitung radioaktiver Stoffe beigetragen.
Im Falle natriumgekühlter Reaktoren (beispielsweise gewisser schneller Brüter) besteht die Gefahr, dass Natrium entweder unter starker Rauchbildung an Luft verbrennt oder mit Wasser reagiert, wobei Wasserstoff entsteht, mit entsprechender Gefahr heftiger Explosionen. Auf jeden Fall verhindert es den Einsatz von Löschwasser, was eine enorme Einschränkung im Falle schwerer Unfälle bedeutet.
Die Gefahr der Bildung von Wasserstoff bei Kontakt überhitzter Brennelemente mit Wasser wurden bereits oben erläutert.
Materialermüdung
Unter dem Einfluss der starken Neutronenstrahlung von der nuklearen Kettenreaktion verspröden Metalle viel schneller als ohne diese Bestrahlung. Weitere Faktoren, die die Alterung wichtiger Materialien beschleunigen, sind häufige Wechsel von Temperatur und mechanische Beanspruchung. Auch deswegen werden Kernreaktoren möglichst für lange Zeiten mit konstanter Leistung betrieben.
Die Diagnose von Materialermüdungen (beispielsweise auch Mikrorissen in Kühlwasserleitungen) kann erschwert sein durch die Strahlung wie auch durch die räumliche Enge vieler Komponenten. Der vorsorgliche Austausch von Komponenten ist wiederum teuer und zeitaufwendig, führt also auch kostspielige Produktionsausfälle nach sich.
Wenn beispielsweise bei Ultraschalluntersuchungen Risse in Reaktordruckbehältern oder Dampfleitungen gefunden werden, stellt sich die Frage, inwieweit diese gefährlich sind oder bei weiterem Wachstum gefährlich werden könnten. Solche Fragen sind schwierig zu beantworten, da Erfahrungswerte z. B. für stark bestrahlte metallische Legierungen aller Art nur begrenzt existieren. Ein vorsorglicher Austausch oder gar eine Stilllegung der Reaktoranlage wäre jedoch oft ökonomisch kaum tragbar. In solchen Situationen ist es oft praktisch nicht möglich, das Prinzip "Sicherheit hat immer oberste Priorität" tatsächlich zu praktizieren.
Automatische Einrichtungen
Mögliche Einflüsse menschlichen Versagens können reduziert werden, wenn viele für die Sicherheit relevante Vorgänge von automatischen Einrichtungen gesteuert werden. Beispielsweise verfügt jeder Reaktor über ein System, welches eine automatische Reaktorschnellabschaltung (RESA) auslöst, wenn bestimmte Unregelmäßigkeiten detektiert werden.
Andererseits ist es auch möglich, dass das Eingreifen automatischer Einrichtungen problematische Folgewirkungen hat. Beispielsweise ist nicht von vornherein klar, ob es bei einem Druckanstieg im Kühlkreislauf sinnvoll ist, den Druck über Ventile abzulassen oder einen gewissen Druckanstieg zu tolerieren. Ein weiteres Problem entsteht durch die erhöhte Komplexität automatisch gesteuerter Systeme, die es dem Betriebspersonal erschweren können, im Notfall die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Es ist auch schon vorgekommen, dass das Betriebspersonal automatische Einrichtungen außer Kraft gesetzt hat, da diese als lästig oder nicht hilfreich empfunden wurden. Dies war beispielsweise bei der Katastrophe in Tschernobyl in 1986 der Fall.
Automatische Vorrichtungen können ein Gefühl der Sicherheit erzeugen, welches die Betriebsmannschaft zu unvorsichtigem Agieren verleiten kann. Gerade wenn mit weiteren Sicherheitsbarrieren gerechnet werden kann, kann die Neigung zur Außerkraftsetzung einer Barriere entstehen, wenn dies den momentanen Ablauf erleichtert.
Äußere Einwirkungen
Terrorismus und Sabotage
Wegen der möglichen extremen Folgen eines Reaktorunglücks wird dessen Auslösung für Terroristen zu einer interessanten Option. Zwar dürfte das Eindringen Bewaffneter in den Reaktorbereich recht schwierig sein, aber es gibt eine Reihe anderer Möglichkeiten, einen schweren Unfall auszulösen. Hierzu gehören die Sabotage durch eingeschleuste Mitarbeiter, das Herbeiführen eines Flugzeugabsturzes auf ein Reaktorgebäude sowie die Zerstörung der Notstromversorgung und der Netzverbindung, wodurch die Kühlung gefährdet wird. Auch die Abklingbecken für ausgediente Brennelemente, die häufig wesentlich schlechter geschützt sind als der Reaktorkern und trotzdem ein ähnlich hohes Inventar an radioaktiven Substanzen enthalten können, könnten Ziele für verheerende Angriffe werden. Leider befindet sich bisher der Großteil der weltweit gelagerten verbrauchten Brennelemente in relativ verwundbaren Abklingbecken, obwohl die nach einigen Jahren des Abklingens mögliche trockene Lagerung in massiven Behältern die Gefahren erheblich reduzieren könnte.
Die Weigerung gewisser Staaten, auch die Möglichkeit von Terrorismus und Sabotage in die EU-weit vorgesehenen "Stress-Tests" mit einzubeziehen, legt die Befürchtung nahe, dass viele bestehende kerntechnische Anlagen in diesem Bereich erhebliche und schwer zu behebende Mängel aufweisen.
Erdbeben und Tsunamis
Erdbeben und durch sie ausgelöste Tsunamis können gewaltige Wirkungen haben. Im Prinzip lassen sich Kernkraftwerke auch gegen sehr schwere Erdbeben absichern, jedoch steigt der Aufwand mit jeder Stufe auf der Richter-Skala enorm an. Zudem wurde die Wahrscheinlichkeit sehr schwerer Beben gelegentlich unterschätzt – teils wohl mit Blick auf die wirtschaftlichen Vorteile einer schwächeren Auslegung. Bei alten Anlagen (siehe unten) lässt sich der Erdbebenschutz nur sehr begrenzt nachträglich verbessern.
Verkettung von Umständen
Der Ausfall einer einzigen Komponente eines Kernreaktors wird in aller Regel nicht zu einem schweren Unfall führen, da andere Komponenten einen schweren Verlauf verhindern können. Jedoch besteht die Gefahr, dass eine Verkettung ungünstiger Umstände schwere Folgen hat. Beispielsweise kann die starke Überhitzung von Brennelementen zur Bildung von Wasserstoff führen, der dann explodieren kann, und in der Folge werden weitere Sicherheitseinrichtungen zerstört. Ebenfalls sind zufällige Kombinationen ungünstiger Umstände möglich, beispielsweise der gleichzeitige Ausfall von Kühlwasserpumpen oder das unvorhergesehene Versagen automatischer Einrichtungen in kritischen Situationen. Besonders heikel sind unerwartete "redundanzübergreifende" Fehler (common cause failure events), die mehrere redundante Systeme in gleicher Weise betreffen und damit die Redundanz unwirksam machen. Weitere mögliche Verkettungen entstehen durch die unglückliche Interaktion von Betriebsmannschaften mit automatischen Systemen.
Im Rahmen probabilistischer Sicherheitsanalysen wird versucht, alle möglichen Verkettungen von ungünstigen Umständen zu erkennen und ihre Wahrscheinlichkeit zuverlässig abzuschätzen, also das verbleibende Restrisiko quantitativ zu bestimmen. Jedoch leiden solche Analysen unter grundlegenden Problemen:
- Bereits die Wahrscheinlichkeit des Ausfalls einer einzigen Komponente ist schwer zuverlässig zu bestimmen. Beispielsweise kam es schon vor, dass bei Wartungsarbeiten Werkzeuge in wichtigen Anlagenteilen wie Kühlwasserpumpen zurückgelassen wurden und diese Pumpen dann versagten. Die Wahrscheinlichkeit für solche Wartungsfehler wurde vermutlich nicht vorhergesehen.
- Die Verkettung unglücklicher Umstände führt noch zu wesentlich komplexeren Überlegungen, die unvermeidlich fehlerbehaftet sind. Es ist extrem schwierig, alle möglichen Verkettungen von Umständen zu erkennen.
- Solche Untersuchungen können natürlich dazu führen, dass gewisse mögliche Schadensverläufe erkannt und dann durch geeignete Gegenmaßnahmen unwahrscheinlicher gemacht werden. Dies ist zwar zunächst günstig, weil das Risiko reduziert wird. Jedoch wird das verbleibende Risiko dann umso mehr von genau den Schadensverläufen dominiert, welche nicht vorhergesehen wurden. In der Tat tauchen in der Praxis häufig solche unerwarteten Schadensverläufe auf.
Vermutlich aus solchen Gründen sind beispielsweise Kernschmelzen bereits wesentlich häufiger aufgetreten, als es statistisch zu erwarten gewesen wäre. Deswegen haben berechnete Aussagen der Art, dass beispielsweise eine Kernschmelze einmal in 10 000 Betriebsjahren stattfinden könnte, inzwischen massiv an Glaubwürdigkeit verloren. Es wird deutlich, dass das Restrisiko grundsätzlich nicht genau bestimmbar ist.
Daraus folgt allerdings keineswegs, dass probabilistische Sicherheitsanalysen zwecklos wären. Sie können sehr wohl zum Verständnis möglicher Risiken beitragen und damit helfen, die Wahrscheinlichkeit von Unfällen zu vermindern – auch ohne dass man diese Wahrscheinlichkeiten (vor und nach dem Ergreifen gewisser Maßnahmen) zuverlässig berechnen könnte.
Das Problem alter Kraftwerke
Seit dem Bau der ersten Kernkraftwerke wurde – nicht zuletzt durch Störfälle und Unfälle – ein erhebliches Wissen über die Reaktorsicherheit gewonnen, welches in vielen Ländern zur erheblichen sicherheitstechnischen Verbesserung neuer Kraftwerke geführt hat. Jedoch lassen sich alte, an sich noch funktionstüchtige Kraftwerke nur begrenzt durch Nachrüstungen auf den aktuellen Stand bringen. Deswegen hätten die meisten älteren Kernkraftwerke, die heute weltweit in Betrieb sind, selbst mit umfangreichen Nachrüstungen keine Chance auf die Erteilung der Betriebsgenehmigung, wenn diese nach heutigen Maßstäben erworben werden müsste.
Man beachte, dass ein großer Teil der heute betriebenen Kraftwerke (sowohl in Deutschland als auch weltweit) ein hohes Alter von mehreren Jahrzehnten aufweist, da es in den letzten Jahrzehnten kaum mehr Neubauten gab.
Abhängigkeit von Stromerzeugungskapazitäten
In einigen Ländern besteht eine sehr starke Abhängigkeit von nuklearen Stromerzeugungskapazitäten. In diesem Fall kann es sehr schwer werden, im Falle erkannter Sicherheitsrisiken die an sich notwendigen Gegenmaßnahmen konsequent durchzusetzen. Schließlich könnte auch eine Gefährdung der Stromerzeugung massive Risiken bedeuten; es geht nicht ausschließlich um finanzielle Interessen der Betreiber.
Diese Problematik besteht derzeit beispielsweise in Frankreich. Bei einer größeren Zahl von Kernkraftwerken wurde gefunden, dass sehr sicherheitsrelevante Bauteile mit gefälschten Sicherheitszertifikaten verbaut wurden. Nachdem hierdurch mehrere Kraftwerke vorsorglich abgeschaltet werden mussten, um die Lage genauer zu klären, entstand ein Engpass, der erhebliche zusätzliche Stromimporte z. B. aus Deutschland (v. a. von Kohlekraftwerken) nötig macht und die Gefahr von Stromausfällen v. a. im Winter steigert. Gleichzeitig verzögert sich die Inbetriebnahme des neuen EPR in Flamanville immer weiter. In dieser Situation wurde beschlossen, auch einen uralten Reaktorblock in Fessenheim mit bedenklichen Sicherheitseigenschaften, der eigentlich längst hätte stillgelegt werden sollen, vorläufig noch weiter zu betreiben. Seine endgültige Außerbetriebnahme war für Ende Dezember 2016 definitiv zugesagt worden.
Ähnlich angespannt ist die Situation seit einiger Zeit in Belgien. Die Kernkraftwerke Doel und Tihange verängstigten durch eine Serie von Pannen die Bevölkerung im weiteren Umkreis, können aber nicht abgeschaltet werden, da das Land von deren Produktion abhängig ist.
Massive gesellschaftliche Spannungen sind zu erwarten für den Fall, dass beispielsweise in Frankreich ein schwerer Reaktorunfall vorkommt. Große Teile der Bevölkerung würden dann einen sofortigen oder baldigen Atomausstieg fordern, der mangels Vorbereitung aber praktisch nicht möglich wäre. Selbst eine grundlegend revidierte Einschätzung der Sicherheitslage durch die Politik würde daran wohl nichts ändern.
Der größte anzunehmende Unfall (GAU) und der Super-GAU
Der Begriff des größten anzunehmenden Unfalls (GAU) wird in der Öffentlichkeit häufig falsch benutzt. Er ist zu verstehen als der Auslegungsstörfall, also der schwerwiegendste Störfall, der nach der Auslegung der Anlage noch so beherrscht werden muss, dass außerhalb der Anlage keine schwerwiegenden Folgen eintreten. Hiernach ist der GAU gerade nicht eine Katastrophe, sondern bedeutet allenfalls das Ende der betroffenen Anlage.
Ursprünglich war bei der Nutzung der Atomtechnologie vorgesehen, jeden Störfall zu beherrschen, der mit einer nicht vernachlässigbaren Wahrscheinlichkeit eintreten kann. Ein nicht mehr beherrschbarer Unfall, der also jenseits des GAU läge, wurde also als extrem unwahrscheinlich angesehen, eben als ein fiktives Restrisiko. Leider geschah trotzdem inzwischen mehrfach ein Super-GAU, das heißt ein den GAU wesentlich überschreitender Unfall (auslegungsüberschreitender Störfall) mit katastrophalen Folgen. Besonders schwerwiegend war die Katastrophe von Majak in 1957 (die freilich verheimlicht wurde und selbst heute der Öffentlichkeit noch kaum bekannt ist), die von Tschernobyl in 1986 und von Fukushima in 2011.
Konzepte für inhärente Sicherheit
Diverse Konzepte sind untersucht werden, die in neuartigen und teilweise auch schon in bestehenden Kernreaktoren für eine inhärente Sicherheit sorgen sollen. Die Grundidee ist, dass gewisse Schadensverläufe allein schon durch die grundlegenden Eigenschaften gewisser Komponenten oder Materialien quasi naturgesetzmäßig vermieden werden und nicht etwa durch technisches Eingreifen oder durch aktive Sicherheitseinrichtungen, die im Notfall womöglich versagen würden. Zwei Beispiele für Mechanismen, die in Teilbereichen für eine inhärente Sicherheit sorgen können, werden im Folgenden kurz beschrieben:
- Ein Reaktor kann bei entsprechend geringer Leistung und Leistungsdichte so ausgelegt werden, dass nach dem Abschalten der Kettenreaktion die Nachzerfallswärme allein durch die natürliche Konvektion des Kühlmittels oder auch durch Wärmeleitung und Wärmestrahlung abgeführt werden kann, d. h. dass eine Kernschmelze auch ohne funktionsfähiges aktives Kühlsystem vermieden wird. Leider ist dieses Konzept bei großen Reaktoren kaum realisierbar, und kleinere Reaktoren sind aufgrund der in der Regel hohen spezifischen Baukosten wirtschaftlich wenig interessant.
- Eine unkontrolliert ansteigende nukleare Kettenreaktion kann unter Umständen allein dadurch vermieden werden, dass bei Überhitzung die Bildung von Dampfblasen im Kühlwasser die moderierende Wirkung vermindert. Hierdurch kann ein völliges "Durchgehen" des Reaktors in kurzer Zeit verhindert werden, so dass im Notfall wesentlich mehr Zeit für andere Einwirkungen vorhanden ist, z. B. zur aktiven Abschaltung mit Hilfe der Steuerstäbe.
Es muss betont werden, dass sich die inhärente Sicherheit immer auf bestimmte Schadensverläufe bezieht. Ein Reaktortyp, der generell inhärent sicher ist, existiert bislang nicht und dürfte auch schwer realisierbar sein, insbesondere wenn zusätzliche Anforderungen wie Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden müssen.
Risikoübernahme durch Betreiber, Haftpflichtversicherung und Allgemeinheit
Da die Auswirkungen von Reaktorunfällen sehr groß sein können, ist es nicht möglich, dass der Betreiber eines Reaktors das Risiko mit eigenen Mitteln voll abdeckt. Es stellt sich die Frage, wer dann hierfür aufkommen soll. Im Prinzip denkbar wäre eine Haftpflichtversicherung, die auch sehr große Schäden abdeckt, beispielsweise bis zu 100 Milliarden Euro (obwohl die mögliche Schadenshöhe noch darüber liegt). Entsprechende Versicherungspolicen wären jedoch so kostspielig, dass der Kraftwerksbetrieb damit vollkommen unrentabel würde. (Dies liegt offenbar daran, dass Versicherungsunternehmen schwer davon zu überzeugen sind, dass folgenreiche Unfälle tatsächlich extrem unwahrscheinlich sind.) Deswegen besteht eine Versicherungspflicht in den meisten Ländern nur bis zu einer Schadenshöhe von einigen Milliarden Euro, teils sogar noch deutlich weniger. Damit sind zwar zahlenmäßig die meisten Schäden abgedeckt, da große Unfälle wesentlich unwahrscheinlicher sind als kleinere; jedoch verbleibt das Risiko der großen Unfälle bei der Allgemeinheit: Die Bürger, die bereits das Risiko für ihre Gesundheit tragen, tragen zusätzlich als Steuerzahler auch das finanzielle Risiko. Hinzu kommt das Risiko vor allem für Grundbesitzer, dass ihr Eigentum bei einem Atomunfall massiv an Wert verliert, ohne dass eine angemessene Entschädigung hierfür zu bekommen ist.
Abgesehen vom Aspekt der Gerechtigkeit ist die bestehende Situation auch im Hinblick auf die Minimierung der Gefahren problematisch. Objektiv führt sie dazu, dass es im Interesse der Betreiber liegt, das Risiko schwerer Unfälle als kleiner darzustellen, als es tatsächlich ist. Ebenso besteht das Interesse, allzu kostspielige technische Vorkehrungen zur Verminderung dieses Risikos zu vermeiden – selbst wenn dies gesamtwirtschaftlich ungünstig ist. Hiergegen hilft nur die strenge Überwachung vor allem durch staatliche Institutionen, die allerdings hierfür nicht unbedingt optimal eingerichtet sind. Zudem sind sie häufig politischen Einflüssen ausgesetzt, die nicht im Sinne des Gemeinwohls sind. So stellt sich die Frage, ob die Bürger das Vertrauen haben können, dass die Risiken korrekt ermittelt und mit den besten Methoden vermindert werden. Die Akzeptanz der Kernenergie leidet nicht zuletzt stark an diesem Aspekt.
Die Interessenlage wäre wesentlich anders, wenn eine Versicherungspflicht mit einer hohen Versicherungssumme bestünde. Dann käme nämlich mit dem Versicherungsunternehmen eine Instanz ins Spiel, die aus eigenem wirtschaftlichen Interesse das Risiko so genau wie möglich untersuchen ließe. Als Folge hiervon dürfte das Restrisiko deutlich sinken, obwohl bzw. gerade weil dann eine nüchterne Abwägung zwischen Risiken und den Kosten für ihre Verminderung erfolgen würde. Auch die Entscheidung über den Weiterbetrieb alter Kraftwerke würde wesentlich stärker auf eine rationale Basis gestellt, weil die dort höheren Versicherungsprämien in die Wirtschaftlichkeitsberechnung eingingen.
Literatur
[1] | Extra-Artikel: Was lernen wir aus dem Atom-Desaster von Fukushima? |
Siehe auch: Radioaktivität, Kernreaktor, Kernenergie
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