Streckbetrieb
Definition: der Weiterbetrieb eines Kernkraftwerks trotz verbrauchter Brennelemente mit reduzierter Leistung
Englisch: stretch-out operation, cycle stretchout
Autor: Dr. Rüdiger Paschotta
Wie man zitiert; zusätzliche Literatur vorschlagen
Ursprüngliche Erstellung: 31.08.2022; letzte Änderung: 20.08.2023
Die zentrale Komponente jedes Kernkraftwerks sind ein oder mehrere Kernreaktoren. In diesen wird durch Kernspaltung Wärme erzeugt, mit der Wasserdampf für den Antrieb einer Dampfturbine hergestellt wird. Typischerweise muss einmal pro Jahr ein Teil der Brennelemente eines Reaktors (z. B. ein Viertel davon) ausgetauscht werden – nicht weil kein spaltbares Material mehr vorhanden wäre, sondern weil die zur Aufrechterhaltung der Kernspaltungs-Kettenreaktion notwendige Reaktivität im Betrieb immer mehr abnimmt. Aus diesem Grund lässt sich das spaltbare Material in einem Kernreaktor niemals auch nur annähernd vollständig ausnutzen. Es ist aber möglich, in einem sogenannten Streckbetrieb den Reaktor auch ohne Austausch von Brennelementen noch für einige Zeit mit reduzierter Leistung zu betreiben.
Ein Streckbetrieb wird häufig praktiziert, weil er mehrere Vorteile bietet:
- Die Ausnutzung der Brennelemente (bzw. des Kernbrennstoffs darin) wird verbessert, was Geld spart und die Menge der radioaktiven Abfälle etwas reduziert.
- Die Verzögerung des Austauschs von Brennelementen kann auch vorteilhaft sein, wenn es Engpässe bei der Beschaffung gibt, wenn die Preise momentan besonders hoch sind, wenn das Personal für diese aufwändigen Arbeiten momentan nicht zur Verfügung steht, oder wenn es aus irgendwelchen anderen Gründen (z. B. Ausfall anderer Kraftwerke) hilfreich ist, die Zeit ohne Stromproduktion etwas zu verschieben.
Der wichtigste Nachteil des Streckbetriebs ist, dass die zur Verfügung stehende Reaktorleistung und somit auch die erzeugte elektrische Leistung immer mehr nachlässt.
Physikalisch/technische Details
Im Folgenden werden die wesentlichen Zusammenhänge für den in der Praxis bei weitem wichtigsten Fall eines Leichtwasserreaktors beschrieben; es kann sich um einen Druckwasserreaktor oder um einen Siedewasserreaktor handeln. Bei anderen Reaktortypen (z. B. bei Brutreaktoren) sind manche Aspekte deutlich anders.
Benötigte Reaktivität
Für die Aufrechterhaltung der Kernspaltungs-Kettenreaktion im Leistungsbetrieb ist es notwendig, dass im Mittel jede Kernspaltung durch Aussendung von Neutronen genau eine weitere Kernspaltung auslöst. In den üblichen Leichtwasserreaktoren ist es so, dass die ausgesandten sehr energiereichen Neutronen durch das Wasser in seiner Funktion als Moderator abgebremst werden, wodurch ihre Fähigkeit, Kernspaltungen auszulösen, stark vergrößert wird. Von den zwei bis drei pro Spaltung emittierten Neutronen gehen manche verloren (etwa durch Verlassen des Kernreaktors oder durch Absorption in bestimmten Substanzen), aber eben eines pro Spaltung muss im Mittel wieder eine weitere Kernspaltung auslösen, um die Leistung aufrecht zu erhalten.
Regelung der Neutronenbilanz
Frische Brennelemente weisen eine hohe Reaktivität auf. Die Kettenreaktion muss dann mit verstärkten aktiven Maßnahmen in der Leistung begrenzt werden – in der Regel nicht nur mit weit eingefahrenen Regelstäben (die Neutronen absorbieren) sondern auch durch Zugabe von Borsäure zum Kühlwasser des Reaktors.
Im Betrieb der Brennelemente nimmt die Reaktivität mit der Zeit immer mehr ab, d. h. die Neutronen werden immer knapper. Dies einerseits weil spaltbares Material (z. B. Uran 235) verbraucht wird und andererseits weil manche der Spaltprodukte Neutronen absorbieren, die dann für die Kettenreaktion fehlen. Dies muss kompensiert werden, indem man die Konzentration der Borsäure im Wasser immer weiter reduziert, bis auf annähernd null.
Wenn dieser Spielraum voll ausgeschöpft ist, kann die Reaktivität wiederhergestellt werden, indem man einen Teil der Brennelemente durch neue ausgetauscht – was in der Regel eine Abschaltung des Reaktors für einige Wochen voraussetzt. (Nur wenige Reaktoren wurden so konstruiert, dass Brennelemente im laufenden Betrieb gewechselt werden können.) Man entnimmt diejenigen, die am längsten im Reaktor waren (d. h. die höchste Standzeit haben), und gruppiert evtl. die verbleibenden Brennelemente auch noch um.
Realisierung des Streckbetriebs
Jedoch kann man auch, um einen Streckbetrieb zu realisieren, stattdessen die Reaktivität mit anderen Maßnahmen aufrechterhalten:
- Phase 1: Man kann den Reaktor bei einer immer weiter reduzierten Temperatur betreiben, weil dadurch die Dichte des Wassers und damit seine Effektivität als Moderator steigt. Realisierbar ist dies beispielsweise bei einem Druckwasserreaktor durch weiteres Öffnen der Dampfventile zur Dampfturbine, wodurch Druck und Temperatur im Dampferzeuger sinken. Allerdings reduziert dies auch den Wirkungsgrad der Stromerzeugung.
- Phase 2: Irgendwann muss auch noch Kühlwasser hinzugefügt werden (evtl. in mehreren Schritten), da die Zunahme der Dichte natürlich mit einer Reduktion des Volumens einhergeht.
- Phase 3: Wenn die Temperatur nicht weiter abgesenkt werden kann, entsteht eine zusätzliche Reserve einfach durch weitere Reduktion der Reaktorleistung. Dadurch wird nämlich die Produktion gewisser "Neutronengifte" reduziert. In dieser Phase fällt die Leistung noch schneller als zuvor ab.
Typischerweise verliert man pro Woche des Streckbetriebs einige Prozent der Reaktorleistung, und kann diese Betriebsphase über zwei bis drei Monate durchführen.
Sicherheitstechnisch sollte der Streckbetrieb normalerweise keine besondere Nachteile mit sich bringen. Er erfordert aber besondere Vorsicht, weil z. B. gewisse Grenzwerte der Reaktorparameter gegenüber den Normalwerten modifiziert werden müssen. Wenn Kraftwerke schon vor dem Streckbetrieb sicherheitstechnische Mängel aufweisen (etwa Risse in Dampferzeugern wie in Neckarwestheim und Emsland), wird diese Problematik jedenfalls nicht vermindert.
Schwierig kann u. U. das Wiederanfahren eines Kraftwerks sein, welches bereits im fortgeschrittenen Streckbetrieb lief. Dies liegt an der geringen Reaktivität.
Streckbetrieb im Rahmen der Energiekrise 2022
Die letzten beiden stromproduzierenden Kernkraftwerke in Deutschland sollten nach dem Atomaustiegsbeschluss 2023 abgeschaltet werden. Wegen der drohenden Stromversorgungskrise wird aber überlegt, ob diese Kraftwerke im Streckbetrieb noch für einige Monate zusätzlich betrieben werden. Rein technisch sollte dies realisierbar sein, jedoch sind noch andere Aspekte zu klären betreffend die Sicherheit, die Haftung und andere rechtliche Fragen.
Wenn Strom von diesen beiden Kraftwerken für mehr als nur wenige Monate benötigt würde, würde der Streckbetrieb nicht ausreichen; es würden neue Brennelemente benötigt. Deren Beschaffung ist aber nicht schnell möglich, und die rechtliche Lage wäre wohl auch erheblich komplizierter. Es ist umstritten, inwieweit die rechtlichen Probleme genügend rasch lösbar wären; sie liegen teils auch auf der Ebene des Europarechts, da eine Laufzeitverlängerung normalerweise einer grenzüberschreitenden Überprüfung der Umweltauswirkungen bedarf, die naturgemäß einiges an Zeit braucht.
Siehe auch: Kernreaktor, Kernkraftwerk
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